„Jeder Platz in unserem Stadion steht für einen Toten“

Die Fanszene des TSV 1860 München organisierte am vergangenen Sonntag beim Heimspiel gegen den 1. FC Saarbrücken eine „Boycott Qatar“-Choreografie in der Westkurve. Die Münchner Löwen verteilten Flyer mit einer Erklärung, warum die anstehende Weltmeisterschaft im Wüstenstaat boykottiert werden sollte.

Auf der Rückseite der Flyer waren Kreuze abgebildet. Bei der Choreografie konnten die 1860-Fans dann diese Seite der Flyer in die Höhe halten, wodurch sich die Choreografie ergab. Vor der Kurve hing noch ein „Boycott Qatar“-Spruchband mit durchgestrichenem Fifa-Schriftzug. Die 15.000 Fans, die das Drittligaspiel am Sonntag im Grünwalder Stadion verfolgten, standen während der Aktion symbolisch für die laut Medienberichten gleiche Anzahl an Todesfällen in Katar im Vorfeld der WM.

Die Ultras des TSV 1860 München blickten aber nicht nur kritisch ins Ausland, sondern prangerten mit einer weiteren Stellungnahme auch Missstände in Deutschland an. So veröffentlichten die Löwenfans ein Statement zum problematischen Verhältnis zwischen Polizei und Fußballfans. (Faszination Fankurve, 12.11.2022)

Faszination Fankurve dokumentiert das Statement der Münchner Löwen:

Servus Löwenfans,

kritisches Hinterfragen der Polizei ist eine absolute Notwendigkeit, ein fester Bestandteil unserer Subkultur und damit auch unserer Kurve. Mit Aktionen wie zum Beispiel den erneuten Spruchbändern letzte Woche oder Beiträgen im Brunnenmiller hat unsere Fanszene bereits auf unterschiedliche Missstände bei der Staatsmacht aufmerksam gemacht. Weiter werden wir uns es vorbehalten, auch in der Zukunft zu aktuellen Ereignissen, unverhältnismäßigen Einsätzen, angewendeter Repressionen oder anderen Missständen Stellung zu beziehen und unseren Standpunkt klarzumachen. Die jüngsten Ereignisse, welche auch uns wiederholt selbst betreffen, wollen wir an dieser Stelle erneut nicht unkommentiert lassen.

In den letzten Monaten hat die Staatsmacht die Repressionen gegen Fußballfans wieder auf eine neue, noch unzumutbarere Stufe gesteigert. Rechtlich abgesichert durch verfassungswidrige – in den letzten Jahren bundesweit novellierte – Polizeigesetze wird ein breites Spektrum an unverhältnismäßigen, repressiven Maßnahmen über den Fanszenen ausgeschüttet.

Besonders zu kritisieren sind die stattgefundenen Öffentlichkeitsfahndungen in Leipzig, wie wir sie bereits unter anderem im Nachgang der Relegation 2016 erfahren mussten. Hervorzuheben ist in besonderem Maße, dass das Mittel der Öffentlichkeitsfahndung regelrecht Existenzen zerstören kann, da Einzelpersonen entgegen jeder Unschuldsvermutung öffentlich bloßgestellt gestellt werden und selbst bei einer im Nachgang erwiesenen Unschuld dieser Personen der soziale so wie gesellschaftliche Schaden oft nicht mehr zu reparieren ist. Unverhältnismäßige DNA-Proben, wie auch in diesem Fall in Leipzig verwendet, sind Teil des Spektrums von Repressalien, mit welchen wir als Fanszene auch zum wiederholten Male konfrontiert sind. Diese DNA-Proben sind eigentlich eines der letzten Mittel, bei schwersten Straftaten Beweise zu erhalten. Bei Fußballfans wird dies bereits im Rahmen von verhältnismäßig geringfügigen Tatbeständen wie Sachbeschädigung gerne und ohne nachvollziehbare Relation zur vorgeworfenen Straftat verwendet. In Köln gab es im Vorfeld des Spiels gegen Belgrad SEK-Einsätze wie sonst nur zur Terrorismusbekämpfung. Ob der Einsatz mit über 400 Polizisten für 16 Verhaftungen sowie in Zuge dessen zwei verletzten Angehörigen noch im Verhältnis zu den vorgeworfenen Straftaten steht, sollte ausreichend Grund zur Frage sein, ob hier nicht über das Ziel hinausgeschossen wurde und viel mehr ein Anlass zu einer prestigeträchtigen Pressekonferenz geschaffen werden sollte. Auch am Rande des Derbys in Hamburg hat sich die bereits in der Vergangenheit auffällig gewordene BFE-Einheit „Blumberg“ wieder einen weiteren Gewaltexzess geleistet. Anstatt aus den früheren Vorfällen zu lernen und Konsequenzen zu ziehen – wie zum Beispiel einer Kennzeichnungspflicht oder Auflösung der Einheit – wurde diese extra zu diesem „brisanten“ Spiel beordert und hat ihren Ruf auf ein Neues bestätigt. Die Polizei Dortmund, welche bereits wegen mehreren Fällen aktuell im Licht der Öffentlichkeit steht, lies sich vorletzte Woche auch nicht bitten, die Stuttgarter Gästefans auf Grund einer zu frühen Anreise zu schikanieren. Die Gäste wurden eingekesselt und bis 17:00 – also fast bis zum Abpfiff des Spiels – kontrolliert. Anschließend wurden noch Gründe für eine Anzeige wegen Landfriedensbruchs, wie unter anderem „unkooperativem Verhalten gegenüber der Polizei“ parat gelegt, um daraufhin diese geschlossen heimzuschicken. Diese Art der Schikane trat schon des Öfteren in Deutschland auf und spiegelt wider, dass die Polizei je nach Belieben Repressionen verteilen kann: Und zwar teilweise ohne jede tatsächlich stattgefundene Straftat.

Leider ist auch unsere Fanszene wieder auf ein Neues mit den Methoden der Staatsmacht konfrontiert. Das zeigt sich vor allem durch Hausdurchsuchungen, ausartende und schikanierende Einsätze und Kontrollen des USKs aber auch wie in Bayreuth letzte Woche durch ein völlig überzogenes Polizeiaufgebot und den erstmaligen Einsatz einer Drohne zur noch umfassenderen Überwachung. Dies sind nur einige Beispiele von vielen bei uns und in ganz Deutschland jedes Wochenende. Während der Staat damit jeden Rahmen sprengt und zum Zwecke angeblicher Sicherheit jegliche Verhältnismäßigkeit vermissen lässt, immer skrupelloser gegen Fußballfans vorgeht und tief in Persönlichkeitsrechte eingreift, häufen sich gleichzeitig die Straftaten durch Uniformierte. Diese gesteigerte Aggression geschieht nicht nur im Fußballkontext, sondern überall. Im Zuge dessen werden Straftaten begangen, ohne dass diese verfolgt bzw. die Verantwortlichen Konsequenzen fürchten müssen. Das liegt zum Beispiel daran, dass viele begangene Straftaten nicht angezeigt werden und zugleich nur wenige Verurteilungen vor Gericht stattfinden. Ein Fall vor wenigen Monaten, bei dem in NRW kurz hintereinander zwei Menschen durch die Polizei ermordet wurden und die jeweiligen Dienststellen im Anschluss gegeneinander ermitteln sollten, zeigt die Absurdität des Ganzen auf. Wir werden deshalb nicht müde zu betonen: Es kann nicht sein, dass Polizeibeamte frei walten können und anschließend auch noch gegen sich selbst ermitteln: Es braucht dringend unabhängige Ermittlungs- und auch Beschwerdestellen!

Ein solches Vorgehen und die zugrundeliegenden Strukturen können und werden wir niemals akzeptieren. Die angewandten Methoden entsprechen denen eines Polizeistaates, sind einer demokratischen Gesellschaft unwürdig und widersprechen dem Grundsatz der Unschuldsvermutung, welcher bei Fußballfans nicht mehr zu existieren scheint. Dahingegen werden in aus rechtlicher Sicht fragwürdigen und teilweise geheimen Datenbanken kleinteilig, ohne dass überhaupt Straftaten zugrunde liegen, Informationen über ganze Personengruppen gesammelt. Die Eintragungen in diesen Datenbanken erschweren uns den Alltag in verschiedenen Belangen immens. Egal ob Schikanen in der Freizeit, der Arbeit, am Spieltag oder unverhältnismäßige Repressionen, die keineswegs der Schwere der vorgeworfenen Straftat entsprechen und zutiefst in die Persönlichkeitsrechte eingreifen, müssen gestoppt werden. Diese repressive Kontrolle wird an uns Fußballfans geprobt, um es anschließend auf die ganze Gesellschaft anzuwenden!

Wir stehen solidarisch zu allen betroffenen Fußballfans in Deutschland und fordern eine Entschärfung der Polizeigesetze, eine Kennzeichnungspflicht, eine unabhängige Überwachung der Institution Polizei sowie unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstellen.

Münchner Löwen im November 2022

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